zypogh hat etwas Neues für Euch! Wir dachten, Euch monatlich Kunstveranstaltungen zu empfehlen, für Euch vor Ort zu sein, Fotogalerien zu basteln und Interviews für Euch zu führen kann nicht alles sein! Ab sofort gibt es die Rheihe 'bei.zypogh.zu.Gast'. Hier laden wir in regelmäßigen Abständen fachkundige Gastautoren ein, die mit ihren wissenschaftlichen Know-How Künstler, Kunstobjekte, Ausstellungen, Galerien oder Ateliers beleuchten. Kurz: Es wird Kunstgeschichte gemacht!
.:Susanne.Kaeppele::beleuchtet.Norbert.Nüssle:.
Text von Nonü
Marshall
McLuhan (1911-1980)
Wir haben aus aktuellem Anlass, nämlich 2 Nüssle Ausstellungen in einem Monat, bei der Kunsthistorikerin Susanne Kaeppele nachgefragt, ob sie uns nicht ein paar Zeilen zu Norbert Nüssle
verfassen könnte, um mehr über ihn zu erfahren. Sie war sofort bereit – dafür ein
großes Dankeschön! Leider weilt Norbert Nüssle nicht mehr unter uns, er verstarb leider im letzten Jahr, aber Susanne hatte einige Male das Vergnügen ihn in seinem Atelier besuchen zu dürfen,
weswegen sie bei beiden Ausstellungseröffnungen (bereits beendet in der
Stadtgalerie und noch bis zum 21.07.2012 laufend bei theurer & scherr) fachkundig
über ihn referiert hat. zypogh findet, dass man einen Künstler nicht besser
kennenlernen kann, als bei ihm im Atelier vorbei zu schauen. Also, begeben wir
uns in…
IN
NONÜS WELT
Norbert
Nüssles Atelier präsentiert sich auf den ersten Blick als ein riesiges Chaos in
Schönheit, dem trotzdem eine geheime Ordnung inne wohnt, die nur der Künstler
versteht, der sich fast blind in seinem Gehäuse bewegt. So könnte man die
Beschreibung von Norbert Nüssles Atelier beginnen, in dem sich alles findet,
was den Künstler im Laufe seines Lebens künstlerisch berührt hat. Von alt nach neu,
von chaotisch bis geordnet oder besser: eine allmählich aufgelöste Ordnung.
Denn es gab ein Ordnungsprinzip zu Beginn, das immer wieder durchbrochen wurde
durch die Zeit. Alte Gerätschaften wie Polaroidkameras, Plakate der 70er Jahre,
Wäscheleinen, an denen Bildreste hängen, Behältnisse, die überborden, all dies
deutet darauf hin. Zu Symbolen einer Ordnungssystematik, die immer wieder über
den Haufen geworfen wurde, entwickelten sich die unzähligen Regale, Kisten,
Kästen, Schubladen oder Schuber. So trifft heftige Unordnung auf Versuche, die
Ordnung zu halten, festzuhalten und dann doch wieder zu scheitern. Ganz
wesentlich für den Collageur sind die überall anzutreffenden spezifischen Materialien
wie Leim oder Klebstoff, von Tapetenkleister über Holzleim, traditionelle Alleskleber
bis zu Fixativ oder Fixogum. Oder das gestapelte Papier, die Fotos und Kopien, Kartons
und Mappen. Für Norbert Nüssle, den Freund delikater Farbspiele, haben zudem
all die Töpfchen und Tuben mit intensiven Farben eine besondere Bedeutung. Ein
Regal voll ausrangierter Verkehrszeichen und Fotos von ihnen belegt die
Bedeutung dieser verweisenden Piktogramme für sein Werk bis heute. Aber auch
Fotografien des Künstlers und seiner Familie finden sich überall, ebenso seines
Autos als fahrbarer Werkstatt. Nicht zu vergessen all die fragmentierten Teile
des weiblichen Körpers, allem voran die rot geschminkten Lippen, die seine
lebenslange Faszination für die Frau an sich belegen. Ganz wesentlich scheint
ein Regal zu sein mit gesammelten kleinen Dingen für die Weiterarbeit an den
großen Collagen nach dem Sommer: Das erinnert natürlich an die frühen
Pleinairmaler des 19. Jahrhunderts, die wie Camille Corot im Sommer in die
Natur hinauszogen, um zu malen, und dann im Herbst und Winter ihre Bilder für
den Salon fertigstellten. So existiert in NoNüs Atelier eine Schachtel mit der
Aufschrift "petites choses" (kleine Sachen), die Gegenstände enthält,
die er auf der Straße aufgesammelt hatte, um sie dann auf neue Bilder
aufzubringen. Dazu gehören auch die gelben Honigbonbons, deren Einwickelpapier
auf fast jeder großen Collage die Sonne symbolisiert, oder die heißgeliebten Zigaretten,
die in Form der blauen Gitanes- und Gauloises-Schachteln immer wieder Eingang
finden. Ähnlich strukturiert muss man sich seine anderen Ateliers vorstellen,
die er in Mannheim in D 6 und in der Sternwarte hatte sowie auch das
Sommeratelier in Kerlouan in der Bretagne, wo er jedes Jahr mit seiner Familie
hinfuhr.
Dr. Susanne Kaeppele
+++
Die Skripte der Vorträge, von Susanne Kaeppele freundlich zur Verfügung gestellt:
Norbert Nüssle bei theuer + scherr (bis 21.07.12)
Norbert Nüssle bei theuer + scherr (bis 21.07.12)
Am 25.06.12 wäre Norbert Nüssle 80
Jahre alt geworden, aber er schlief ruhig und friedlich nach einer Zigarette in
seiner Wohnung in B 7 ein. Was für ein Glück, dass ihm langes Siechtum im
Krankenhaus und Pflegeheim so erspart wurde! Dass er bis zum Schluss in seiner
gigantischen Altbauwohnung mit seinem Wägelchen herumfuhr, im Netz immer ein
Buch, zuletzt Eugène Ionescos Theaterstücke auf Französisch, war typisch und
erfreulich. Aber auch Zeitungsausschnitte, alle Sorten Illustriertenschnipsel
oder Bonbonpapierchen waren in dem Korb, weil er bis zum Schluss gearbeitet
hat. Konnte kaum noch krabbeln, aber collagierte und collagierte und
collagierte.....
Eins seiner letzten Werke war die Sternwarte, in der er selbst lange ein
Atelier hatte, mit allen Nüssle-typischen Ingredienzien: Die Gestalt des Turms
ist eindeutig erkennbar für jeden Mannheimer, er wurde aus eigenen Fotos
zusammengestellt, dazu jede Menge Fetzen aus Illustrierten, gar die von ihm
schon immer gehasste Bild-Zeitung prominent links im Vordergrund, aber auch
Fotoschnipsel von eigenen Bildern und Moltofill, seit den 1970er Jahren steter
Begleiter in seinen Arbeiten. Auch den Schriftzug Mannheim kann man erkennen
und natürlich: jede Menge Frauen! Liegend, sitzend, nackt und angezogen, Nüssles
Lebensthema.
In dieser feinen Ausstellung hier, die
wieder ganz andere Werke versammelt als die Stadtgalerie, können wir aus allen
Schaffensepochen Werke sehen, von den 1960er Jahren bis heute. The steamer le bateau Der Dampfer (1965)
macht den Anfang, denn es enthält schon erste kleine Collageteilchen, etwa die
Sonne aus Bonbonpapier, was Nonü, wie er sich bald nannte, seither immer
verwandte, um unser Lieblingsgestirn zu bezeichnen. Noch viel reine Malerei,
aber eben auch Collage, denn 1965 hat Nüssle die Collage für sich entdeckt.
Nicht datiert, aber vom Künstler auf
den Beginn der 1970er Jahre gelegt, ist ein wundervolles Bild: Die alte Wohnung. Es besteht aus einem
Gauloises-Teppich, einem Bett mit Fensterausblick und einem köstlichen Kohleofen.
Dieses Bild hing am Kopfende des Bettes von Nonü bis zum Schluss und wirkt
wegen des großartigen Farbklangs, den er hier mit einfachsten Mitteln erzielt,
nämlich den blauen französischen Zigarettenschachteln und starken Bleistiftstrichen.
Nonü hat immer viel geraucht und gerne einen getrunken, hatte viele Freunde, es
gab oft große Essen für alle in seiner Wohnung.
Le plaisir de Brehec (1973) zeigt eine weitere typische Variante:
Nüssles fuhren in den Sommerferien immer in die Normandie oder später die
Bretagne, so gibt es schon früh Bilder mit wahrhaftigem Sand, das Strandleben
immer nett garniert mit Eispapier, hier sogar 2 x Eskimo, das Eis der Saison!
Aber auch Kaugummipapierchen namens Hollywood und angedeuteten Badehandtücher
am Strand vor dem Örtchen. Strandbilder haben ihn sein Leben lang begleitet. Das
große Bild hier La fête matinale von
2007 zeigt ausnahmsweise richtig viele Leute am Strand, es wird gegessen und
getrunken. Man sieht aber auch die Einsamkeit im Bild, die Leere und den Unrat
am Rand, also nicht nur Schönheit und Vergnügen, sondern auch die
Schattenseiten, die der Künstler immer mit in seine Bilder einbrachte.
1974 startet Nonü sein Projekt ‚La route de Paris’: Er nimmt in allen Orten, durch die er fährt auf dem Weg zum Meer die
Ortsansichten an der Straße auf. Diese Straßenbilder mit häufig gekrümmte Ansichten werden so natürlich
perspektivisch sehr viel interessanter als einfach frontal in den Blick
genommene. Collageteile sind häufig nun nicht mehr nur Papier, sondern andere
Gegenstände des Alltags, aber auch Relikte der Orte. In dieser Zeit legt er
eine Schachtel an im Atelier mit einzelnen Dingen wie Sand, Gras oder Kippen,
um die Bilder authentischer zu machen. Seit den 1970er Jahren wählte er die Vogelperspektive,
menschenleer sind seine Bilder auf einmal, entfernt ist er allem, was er sieht.
Im Frühwerk (1960er Jahre) malte Nonü ja
viele Innenräume mit Menschen und Fensterblicken auf Städte.
Seine großen Strandbilder und
Stadtansichten in Frankreich und Mannheim machten ihn in den 1970er und 1980er
Jahren richtig berühmt: Seine Auffassung von der Erde als Ball, als Kugel, von
der man herunterrutschen kann und im All verschwinden wurde zum Markenzeichen.
Und immer wieder den Platz ins Zentrum der Welt gestellt durch die Anordnung in
der Fisheye-Perspektive.
Eins seiner letzten großen
Mannheim-Bilder ist Mannheim feature III (2008):Im
Hintergrund sieht man den Chor der Jesuitenkirche, die ja ganz in der Nähe
seiner ehemaligen Wohnung in B 7 steht, diesen Blick hatte er häufig, wenn er
aus der Wohnung kam. Die Verwendung der Rollstuhlfahrerparkplatzzeichen legen
seine Beschäftigung mit dem eigenen Körperzustand nah. Eine großartige
Eigenschaft von Norbert Nüssle war es, offen und frei zu agieren, ganz im
Gegensatz zu der bürgerlichen Gesellschaft, die ihn umgab und die er ganz sanft
immer verachtet hat, aber auch immer gebraucht.
Großartig bleiben auch seine
Interieurs, wie hier Das frühere
Hallenbad (2001): Die Skol ar Groaz (Kreuzschule in Kérlouan, Nonüs
Lieblingsstädtchen in der Bretagne) wurde renoviert und parzelliert, es wurden
einzelne Wohnungen daraus gemacht, was Nonü sehr störte und ihn zu mehreren
Arbeiten veranlasste. Dieses Werk in Blautönen erhielt seinen Titel wegen der
Reminiszenz an ein Schwimmbad. Vehement saust die Welt auch im Innenraum, zwei
zarte Mädchen machen Spagat. Viele Innenraumbilder entstanden in den letzten zehn
Jahren, aber auch Serviettenbilder, eine wunderbare Konstruktion aus kleinen
Geschichten auf Servietten sowie seine Fernsehleichen, eine großartige
Bilderfindung, bei der quasi der Fernseher der Auslöser für die Leiche im
Innenraum ist.
Im Schaufenster von theuer + scherr ist
ein neues Werk zu sehen: Toshiba - wie
man sieht (2011), das wie ein Poem zum Sehen generell, aber auch zu Nüssles
Weltsicht und Bilderkosmos zu lesen ist: Im Zentrum steht die Druckfolie, die
früher ausbelichtet wurde zum Drucken und einen durchsichtigen Schleier auf das
Bild liegt. Auf der Folie ist das Foto eines Fernsehers (Toshiba) zu sehen,
dann der titelgebende Schriftzug seitenverkehrt im Himmel, und das alles über
einem Strand, Himmel und Meer. Und über einem reizvollen Frauengesicht mit
Sonnenbrille und großem roten, leicht geöffneten Mund. Die Sonnenbrille
spiegelt, die Schrift ist spiegelverkehrt, so wird daraus ein kleines visuelles
Gedicht über das Sehen, Angesehen werden, Fotografieren, Wiedergeben, Spiegel
und Spiegelungen und über all das, was man eigentlich sieht.
Dr. Susanne Kaeppele
***
Anlässlich der Ausstellungseröffnung Norbet Nüssle in der Stadtgalerie:
Vorneweg:
vor zwei Wochen rief mich Karin Nüssle an, dass sie noch weitere Arbeiten
gefunden hatte in der Wohnung des Verstorbenen, die nun ausgeräumt wird,
unglaublich! Das Werkverzeichnis umfasst ja so schon 1041 Nummern (ohne
Zeichnungen und Druckgrafik) und jetzt kommen insgesamt wohl noch 60 neue
dazu...Wunderbare Arbeiten, das früheste Blatt von 1948, auf dem der 16-jährige
Norbert Nüssle sicher und gekonnt in Mannheim gezeichnet hat. So führt er
spätestens hier für immer alle ad absurdum, die behaupten wollten, dass er als
einer, der nie Kunst studiert hatte, gar nicht zeichnen könne...Und macht damit
auch ein für allemal klar, dass er in seinem Frühwerk, das ganz klar der Art
Brut verpflichtet ist, bewusst wie Kinder oder Laien oder psychisch Kranke
arbeitete, ganz in der Folge von Jean Dubuffet.
Kurz
zum Überblick: Wir sehen hier in Lycra von 1980 den
typischen weibliche Kussmund, der sich ganz häufig auf Nonüs Straßen, Plätzen
und Stränden findet. Der Titel verdankt sich wie häufig einem Reklameschnipsel
in der Collage. Desweiteren ist im Hintergrund ein Hafenstädtchen zu erkennen
und - weil es ein Strandbild ist - ist es mit echtem Sand gearbeitet. Es kann
durchaus die Themen Hafen und Strand abdecken. Die Graphik, die hier hinten
hängt, zeigt die klassische Nüsslesche Straße, mit Biegung und allen möglichen
Zivilisationsresten im Vordergrund.
Le restostop Jacques Borel von 1985 ist wiederum ein typisches
Bild für das Unterwegssein: Die Nüssles verbrachten ja alle Ferien in
Frankreich, in der heißgeliebten Bretagne, und sind deswegen viel und lange
Strecken mit dem Auto unterwegs. Aus eigenen Fotostücken collagierte der Künstler
ein rasantes Auto, das sich in die Kurve legt, was eigentlich bei einer
Autobahn nicht zu erwarten ist. Der sandige Rastplatz ist garniert mit
veritablem Grünzeug und Kronenkorken. Aufmerksam machen muss man noch auf ein
Markenzeichen Norbert Nüssles: die Sonne aus Bonbonpapier, die seit 1971 auf
fast jedem Bild vorkommt.
Von
seinen Plätzen ist hier Der Kurpfalzkreisel von 2002 vertreten,
der den Mannheimer Norbert Nüssle zeigt, der immer wieder seine Stadt
dokumentiert, festhält und somit die Vergangenheit lebendig hält. Mit der
authentizitätsstiftenden Wirkung seiner Trouvaillen, wie er sie genannt hat,
die sich als petites choses auch in einer Schachtel in seinem
Atelier wiederfinden ließen. Und natürlich mit seinem berühmten
Fisheyeperspektivenblick, der ja immer wieder verdeutlicht, dass der
Bildgegenstand, etwa Mannheim, im Zentrum der Erdkugel steht. Aber auch
allerneueste Arbeiten, wie Der Tanz auf dem Vulkan (2004),
die vor Kraft und Chaos nur so strotzen, oder eine ganz neu gefundene Arbeit,
von Karin Nüssle Moi bezeichnet, auf der ebenfalls im
heftigen Chaos eine junge Dame mit rosa Lippenstift und blauem Lidschatten zu
sehen ist.
Aber
ähnlich wie letztes Jahr in der Kunsthalle geht es mir hier und heute jetzt
eher um das schon erwähnte Frühwerk.
Sehr
reizvoll ist das Motiv der Einladungskarte (Herbstvision, 1964),
wie üblich in den frühen 60er Jahren, stellt Nonü seine Protagonisten im
Innenraum auf, am Fenster, mit Blick nach draußen. Die junge Dame mit den
ängstlichen blauen Augen sieht am Himmel einen unglaublichen Planeten, der aus
Menschleibern gebildet ist. Bei genauerem Hinsehen nimmt man die einzelnen
Glieder wahr, also die Zerstückelung, die Fragmentierung des Menschen, der
Titel Herbstvision macht deutlich, dass es sich hierbei um die
Innensicht der jungen Dame handelt. Das Gestirn scheint aus dem All mit Wucht
auf die Erde zu treffen, die Wölkchen deuten die Heftigkeit an, mit der der
Planet auf die junge Frau zurast. So erklärt sich auch die Angst, die wir in
ihren Augen sehen. Das ist keine schöne Aussicht auf den Herbst, trotz des
freundlichen Farbauftrags. Seine erste Collage datiert von 1965, diese Arbeit
aus dem Jahr davor ist noch reine Malerei.
Eine
interessante Zwischenform bietet diese Zeichnung mit Farbstift: Frau
entdeckt den Mond von 1966: Eine monströse Frau hält ein Kind an
der Hand, gemeinsam schauen sie auf den Sichelmond links oben, zu ihren Füßen
erkennt man einen Hund. Das Bild ist schon mit NONÜ signiert. Eine Dickmadam,
versiert verscheußlicht durch den Strich, auch das kleine Mädchen ist keine
Schönheit, monströse Glotzaugen werden konterkariert von einem netten
Faltenrock. Im Ausdruck erinnert dieses Bild mich an Werke der KOBRA-Gruppe,
die aktiv waren nach dem Krieg, etwa von Constant oder Karel Appel, was die
absurden Figuren angeht, aber auch hinsichtlich des Farbauftrags und des
Materials. Immer figurativ, immer erkenntlich, aber nie schön, keine
ästhetische Kunst, keine Kunst, die gefallen will. Das gilt natürlich auch für
die erwähnte Art Brut: Diese Art der Bildenden Kunst trägt häufig kindliche
Züge, wirkt oft grob oder roh und hatte einen nicht zu unterschätzenden
Einfluss auf die Entwicklung der Malerei ab 1950.
Mémé va à l’église, 1970
In
den späten 60er Jahren beginnt Nonü damit, große Köpfe zu arbeiten, sie
als anthropomorphe Kopffüßler aufzufassen und sie dann zu öffnen. In
einzelnen Kompartimenten des Kopfes, die als Augenhöhlen aufzufassen sind, ist
der Durchblick in den Himmel oder die Landschaft beheimatet. In Brusthöhe
spielen sich dann erkennbare, erzählerische Szenen ab. Hier in diesem
Beispiel handelt es sich um eine große alte Frau mit Dutt - erkenntlich an den
Haarnadeln - also eine mémé (Großmutter), die schon recht
durchlöchert ist. Sprich ihr Körper ist fragmentiert und mit einzelnen Szenen
aus ihrem Leben gefüllt. Etwa sehen wir in Brusthöhe einen Friedhof, ähnlich
demjenigen in Le Faouët, den Norbert Nüssle häufig gemalt, collagiert und
gezeichnet hat. Die Fragmentierung des Bildes durch Kompartimente ermöglicht es
dem Künstler, mehrere, einzelne Themen gleichzeitig oder simultan abzubilden,
ohne die traditionelle Bildebene verlassen zu müssen und gleichzeitig bei einem
Hauptthema bleiben zu können.
Das
nächste Bild, das ich besprechen möchte, ist Pim, der große
Häuservogt von 1973. Geblieben ist die Auffassung des Menschen als
Kopffüßler, neu ist der Einsatz von Stoff (die Schlafanzugshose) und Moltofill,
das immer mehr die Farbe Grau ersetzt und dem Bild eine neue Haptik hinzufügt.
Die Collage hatte er ja für sich schon ab 1965 entdeckt, seither häufen sich
die Spuren davon, auch hier in diesem Bild.
1969 erscheint zum ersten Mal des Künstlers alter
ego Pim. Der große irische Dramatiker Samuel Beckett hatte in seinem
zuerst auf Französisch erschienen Buch „Wie es ist“ (1958) die Figur des Pim
entwickelt, dessen Identität sich im Stadium der Auflösung befindet. Mit dem
Gesicht im Schlamm liegend, Konservendosen um den Hals gebunden, berichtet er,
wie es "vor Pim", "mit Pim" und "nach Pim" war.
Vollständig absurd, abstrus, sinnentleert und existenzialistisch aufgeladen
scheint dieses Romanfragment, das Norbert Nüssle als begeisterter Leser in die
visuelle Bildsprache umsetzte. Der bildende Künstler übersetzt dabei die
Äußerungen des Bewusstseins des Namenlosen, die Beckett ohne die übliche Syntax
aufschrieb und deren Satzeinheiten er bis zur Sinnentleerung variierte, in
seine ungewöhnliche Collagesprache. Gerade die „geöffneten“ Köpfe mit ihren
zerfetzten Realitätspartikeln erscheinen als eine adäquate Übertragung in eine
andere künstlerische Dimension.
Der
Titel (Häuservogt) bezieht sich auf den Vermieter einer Wohnung der
Nüssles, der tatsächlich Vogt hieß (lebt heute nicht mehr, weshalb wir
ungeniert über ihn sprechen können) und ziemlich dick war. Er machte
sauber in der ziemlich verrotteten Wohnung und fragte den Künstler und seine
Frau nach Sexparties, sowas machen Künstler doch! Deshalb steckt bestimmt
auch seine Hand in der Schlafanzughose! Er wollte doppelt so viel Miete, weil
sich das Atelier im Wohnbereich befand. Die Zahlenkolonnen im
Riesenkopf und die Häuser sprechen natürlich über den Vermieter, die
Tablettenschachteln vermutlich auch. Auffällig ist desweiteren das
Riesenohr und die Toilette, was den Begriff Wohnklo nahelegt. Hier macht
sich also der subversive Charme breit, der typisch ist für Norbert Nüssle,
zusätzlich war er noch sehr verärgert, was ihn auch zu Schlüpfrigkeiten greifen
ließ.
Dieser
kleine Überblick muss jetzt genügen, schauen Sie sich alles in Ruhe an,
besuchen Sie sein Werkverzeichnis im Internet und unterstützen Sie unseren
Einsatz für die Mannheimer Künstler!
Keine
Rede ohne Zitat:
dem
Anlass entsprechend hier eines von Nonü, das Sie vielleicht kennen:
Dass
die Städte so aussehen wie sie aussehen,erstaunt
mich immer wieder von Neuem
und,
dass wir auf einer Kugel leben
hat
mich immer sehr verwundert,
auch
kann ich nichts dagegen tun,
dass
ich im hässlichen Chaos der
modernen
Stadtkultur Poesie
erkennen
kann
Es muss
wohl an Kleinigkeiten liegen.
Und noch eines von dem großen Medientheoretiker,
der aktuell wieder neu an Bedeutung gewinnt:
Marshall
McLuhan (1911-1980)
„Die Aufgabe der Kunst ist nicht, Erfahrungsmomente
zu lagern, sondern Umgebungen zu erforschen, die sonst unsichtbar sind.“
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und viel
Vergnügen beim Betrachten der Bilder!
.:Marietta Laturnus.beleuchtet.Eva Wittig:.
Eva Wittig arbeitet in einem Hinterhof in den Mannheimer Quadraten daran, persönliche Erinnerungen in universell verständliche Bilder zu übersetzen...
'Erinnerte Vergangenheit und gefühlte Gegenwart'
Das Atelier eines Künstlers ist nicht nur der Ort der Kunstproduktion, sondern auch ein Raum für Kunstpräsentation. Im Gegensatz zu einem Museum oder einer Galerie bedarf es einer Einladung, um in den als „auratischen Ort“ bezeichneten Raum zu gelangen. Es ist ein privater Ort, indem sich fertige wie auch unfertige Bilder neben persönlichen Gegenständen wie Büchern, Fotos oder CDs stapeln - im Fall von Eva Wittig ist dies vor allem Musik von Bob Dylan oder ihrer eigenen Band, den „WinterJ’s“. So wundert es einen nicht, wenn man das Idol Bob Dylan in einer Radierung wieder findet oder dass die Plattencover und Plakate der „WinterJ´s“, bei denen Eva Wittig Gitarre und Gesang übernimmt, von ihr gestaltet werden.
Eva Wittig ist 2009, zwei Jahre nach dem Abschluss als Meisterschülerin bei Prof. Franz Ackermann an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, nach Mannheim gezogen. Das Atelier der 1979 in Heidelberg geborenen Künstlerin befindet sich in einem versteckten Hinterhof mitten in den Quadraten Mannheims. Betritt man den Arbeitsplatz der Künstlerin, findet man sich wieder in einer Welt voller sensitiver Bilder, die bewusst zur Präsentation für den Besucher aufgehängt wurden oder noch unfertig auf dem Boden oder dem langen Tisch liegen. Gerne kann man an diesem Tisch Platz nehmen und sich wie „Alice im Wunderland“ mit köstlichem Tee aus avantgardistisch-filigranen Tassen verköstigen lassen und in die Kunst- und Gedankenwelt von Eva Wittig eintauchen. Diese lange Tafel lädt ein zu einem Abendmahl mit Freunden oder zu einem Gespräch über die Entstehung von Kunst und der Motivation zur kreativen Übertragung von Emotionen und Erlebnissen in Bildform.
Auf die Frage, wie Eva Wittig zu ihren Motive findet und wie sie das Problem der weißen Leinwand löst, führt sie mich in die hintere Ecke ihres Ateliers, wo eine große Leinwand auf dem Kopf steht und auf ihre Vollendung wartet. Darauf zu sehen ist eine abstrakte amöbenhafte Form, die fast die Hälfte der Leinwand vereinnahmt, während auf der rechten Seite ein schwarzer Mann auf der Erde, versteckt hinter einem Baum kauert und sich konzentriert einer noch nicht ersichtlichen Beschäftigung widmet. Abstraktes trifft auf Gegenständliches, hierbei dient die amöbenhafte Figur jedoch lediglich der Bildfindung. „Die abstrakte Form macht die Leinwand kommunikativer und hilft mir mich von der ständigen Gegenständlichkeit zu lösen.“
Max Ernst formulierte seine Angst vor der weißen Leinwand wie folgt: „Ich hatte immer in meinem Leben einen gewissen Jungfräulichkeitskomplex vor weißen Leinwänden. Wenn ich mich vor eine weiße Leinwand hinsetzte, um darauf etwas anzufangen, etwas zu malen, so war es mir einfach nicht möglich, den ersten Klecks da hinauf zu bringen." Während der surrealistische Künstler eine interessante Oberflächenstruktur mit Hilfe unterschiedlichster Techniken wie der Frottage (frz. frotter - reiben), Grattage (frz. gratter - kratzen) u. ä. entwickelte, sucht sich Eva Wittig Abhilfe, indem sie Formen, die aus früheren Arbeiten übrig geblieben sind, mit dem Overhead-Projektor auf die Leinwand überträgt und sich von diesen zu wiederum neuen Formen inspirieren lässt. Dass die Ausgangsform am Ende auf dem fertigen Gemälde nicht mehr erkennbar sein wird, versteht sich von selbst.
Jedoch ist dieser Bildfindungsprozess nicht die einzige verwendete Methode, ebenso gerne entlehnt die Künstlerin ihre Motive aus Fotos, vorzugsweise von Freunden und der Familie, oder Zeitschriften. Zumeist sind dies Porträts, denn die Künstlerin bekennt, dass „sie Gesichter braucht.“ Nicht nur, weil für sie das Gesicht eines Menschen Geschichten zu erzählen weiß, sondern weil das Gesicht ein Vermittler von Emotionen ist. So zeigen ihre frühen an der Karlsruher Akademie der Künste entstanden Arbeiten vorwiegend eine Auseinandersetzung mit den menschlichen Regungen im Gesicht und in der Körpersprache. Beispielhaft hierfür ist die 2003 auf Papier entstandene „Porträtserie“ von Freunden, die in der Maltechnik und Farbigkeit an die Porträts der prominenten englischen Künstlerin Elizabeth Peyton erinnern. Im Gegensatz zu Peyton, die sich vor allem Stars und Sternchen als Protagonisten ihrer Arbeiten auswählt, haben die in Eva Wittigs Arbeiten dargestellten Personen einen persönlichen Bezug zu der Künstlerin. Dies lässt sich in der sensiblen Darstellung erahnen. Die Privatsphäre der Personen wird gewahrt, denn die Porträts bestechen dadurch, dass die Gesichter ein Spiel mit versteckten Emotionen aufzeigen. Die Porträtierten senken allesamt ihren Blick, drehen den Kopf weg, als würden sie nicht gezeigt werden wollen, die Haare oder die Mütze verdecken die Augen. Sie nehmen allesamt eine dem Betrachter gegenüber abwehrende, in sich selbst versunkene sowie melancholische Haltung ein.
Eva Wittigs Bilder basieren auf persönlichen Geschichten, sie übertragen die eigenen Erinnerungen der Künstlerin aus der Vergangenheit auf die Leinwand und vermischen sich somit mit Gefühlen der Gegenwart. Die Künstlerin reflektiert Erlebnisse aus ihrem Leben und überträgt sie in vieldeutige Motive, die dem Betrachter Assoziationsräume eröffnen, damit er sich die Motive aneignen und in eigene Geschichten übersetzen kann. So auch in dem Fall von „Betonbild Ostgrenze Westgrenze“ (2007), einer in lasierenden zarten Aquarellfarben auf eine große Leinwand gemalten Erinnerung an eine Szene, die der Titel bereits näher erläutert. In konspirativer Haltung bücken sich zwei Personen über einen Tisch, auf dem eine Karte ausgebreitet ist. Der Titel hilft dem Betrachter, sich in das Bild hineinzusehen: die beiden sind auf der Suche nach dem Verlauf der Mauer in Berlin, wobei die Frau die Ostgrenze und der Mann die Westgrenze sucht. Jeder hat seine eigene Bezeichnung und Vorstellung für den gleichen Sachverhalt. Und so verschwimmen beide Bezeichnungen malerisch ineinander, der Stift, den der Mann in der Hand hält, könnte ebenso ein Licht sein, das in die Karte fließt und den Verlauf der Mauer erleuchtet. „Gleich und gleich entzweit sich gern“ besagt ein Zitat aus der Zeitschrift „Die Fliegenden Blätter“, welches das bekannte Sprichwort „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ abwandelt und wunderbar auf die dargestellte Szene als auch auf die Deutsch-Deutsche Geschichte passt.
Dieses in der Malerei entwickelte Motiv der zwei suchenden Gestalten taucht wiederum in der Radierung „Betonbild Ostgrenze Westgrenze“ (2007) auf. Hier schiebt sich eine dritte Person zwischen die Suchenden und erhellt durch einen strahlenden Stern, der sich an Stelle ihres Herzens befindet, einer Muttergottes gleich, die Mitte des Bildes. Die Körper der Suchenden sind in schattenhafte Formen abstrahiert, die durch Parallelschraffuren ausgeführt sind. Am Ende dieser mysteriösen Schattenkörper befinden sich Sterne, sodass die insgesamt drei leuchtenden Sterne im Bild ein Dreieck bilden, welches die helle Kartenfläche - mit der durch eine zackige Linie deutlich hervorgehobenen Grenze zwischen Ost und West - einrahmt. Im Hintergrund befindenden sich Schatten-Menschen, die nebeneinander auf einer Bank sitzen und nur noch schemenhaft zu erkennen sind. Sie scheinen in Erwartung eines besonderen Ereignisses im Warten zu verharren und in sich selbst einzukehren, worauf das von ihren Köpfen ausgehende Strahlen, das einem Heiligenkranz gleicht, hindeutet. Der Vordergrund wird von einer dunklen Fläche vereinnahmt, die die Form eines schwarzen Panthers hinter Gittern annimmt. Die Erinnerung an die Anfangszeilen von Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Panther“ ergänzt die Interpretation der vielschichtigen Radierung: „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“ So ähnlich könnten die Gefühle der im Osten lebenden Menschen angesichts der Mauer gewesen sein, denken sich vielleicht die Suchenden, die nach einer längst nur noch in der Erinnerung verhafteten Grenze Ausschau halten. Diese vieldeutige Radierung eröffnet durch die religiösen, politischen und literarischen Konnotationen eine Unmenge von Interpretationen, überlässt es jedoch dem Betrachter sich selbst eine individuelle Geschichte mit Hilfe der fragmentarisch miteinander kombinierten Motive zu imaginieren.
In den letzten Jahren hat sich Eva Wittig vorwiegend der Technik der Radierung gewidmet und ihre Entwürfe zunehmend auf Kunststoffplatten gekratzt, was den Vorteil hat, dass die Platten einerseits leicht in verschiedenste Formen ausgeschnitten werden können und im Gegensatz zu Metallplatten nicht geätzt werden müssen, bevor man mit ihnen Drucke ausführen kann. Das interessante an der Technik der Radierung besteht darin, dass ein Motiv immer wieder ergänzt werden kann. Die sonst im Verborgenen bleibenden Radierplatten kann man im Atelier ebenso betrachten, wie die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der jeweiligen Auflagen. Eindrucksvoll nachvollziehbar wird dies im Falle der „Buchradierung“ (2010), die ihren Namen der Form eines aufgeschlagenen Buches verdankt. Zum Motiv wurde Eva Wittig durch eine Werbung von „CK One“ inspiriert, die auf der linken Seite eine fröhliche Clique am Strand und auf der rechten das Porträt einer langhaarigen blonden Frau zeigt, die gedankenverloren in die Ferne blickt. Diese Werbung, die so sehr Authentizität und Heile Welt vorspielte, dass die Künstlerin sich darüber empörte und sich dazu aufmachte sich selbst in das Motiv zu übersetzten. Sie fotografierte sich im Stil des Models und übertrug ihr Halbprofil, das dem Betrachter einen melancholischen Blick zuwirft, auf die Radierplatte. Die Freunde steigen in ihrer Version wie Flaschengeister aus Parfumflaschen, von denen eine ironisierend mit „Poison“ beschriftet ist, auf. Von Auflage zu Auflage füllte sich das aufgeschlagene Buch mit grafischen und vegetabilen Mustern, sodass die zuerst nur in Umrissen zu erkennende Gruppe wie auch das Selbstporträt der Künstlerin nun von einem Strudel an Formen und Bruchstücken von Erinnerungen verschlungen werden. Es wird deutlich, dass für Eva Wittig das Malen ein Prozess ist: ein ständiges Suchen, Finden und Ergänzen, das dem Lebens selbst zu gleichen scheint.
Marietta Laturnus - 01.November 20111
+++
Am 19. November 2011, von 16 - 22 Uhr, lädt Eva Wittig herzlich dazu ein, in ihre Bild- und Gedankenwelt einzutauchen. Kommt vorbei, um die Künstlerin und ihre Arbeiten in ihrem Atelier in Mannheim R7, 39 kennen zu lernen. Sie freut sich auf Euch!
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